Tacheles
JTAugsburg
Jahr: 2023
Regie: Susanne Reng
Bühne u. Kostüme: Stefan Morgenstern
Foto: Frauke Wichmann
Project Description
Reden wir Tacheles!
Am 2. März feierte das Präventionsstück »Tacheles« des JTA Premiere in der Turnhalle des Gymnasiums St. Stephan. Es kommt zur richtigen Zeit, wie aktuelle Zahlen belegen.
»So viel Hass!« resümiert der Muslim Kinan (Ramo Ali) gemeinsam mit seinem katholischen Freund Paul (Sebastian Baumgart) nachdem sie über das hasserfüllte Zusammenleben der Menschen in der Welt philosophieren. Die beiden jungen Männer reden Klartext, denn ihre Mitbewohnerin Irina ist nach einer Party in ihrer gemeinsamen Wohngemeinschaft nicht auffindbar. Kinan und Paul machen sich Sorgen um ihre Freundin, nicht, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie Jüdin ist. Sie lassen den Abend Revue passieren, um herauszufinden, was passiert sein könnte und erinnern sich daran, dass ein Rap-Song Irina eventuell aufgewühlt haben könnte. Oder waren es vielleicht doch die antisemitischen Vorfälle in ihrem Fußballverein oder damals auf dem Schulhof? Womöglich ist Irina aber einfach nur zu Hause bei ihren Eltern, um gemeinsam mit ihnen Schabbat zu feiern …
Antisemitismus war nie weg, er war und ist immer da. Antisemitismus im Rap, Antisemitismus auf und neben dem Fußballplatz, Antisemitismus im Alltag, auf dem Schulhof und in den Köpfen der Menschen sind Themen in dem knapp einstündigen Stück. Ein Mix aus Schauspielszenen, direkter Ansprache der jungen Zuschauer*innen und Faktenchecks soll Schüler*innen ab der 8. Jahrgangsstufe für das Thema sensibilisieren. Basierend auf RechercheMaterial und Erlebnissen von Jüdinnen und Juden, die selbst über Lautsprecher zu Wort kommen, hinterließ das Gesehene bei den Zuschauer*innen offenbar einen bleibenden Eindruck.
In der anschließenden Fragerunde, zeigten sich einige schockiert über die zahlreichen antisemitischen Vorfälle der letzten Jahre, über die Anzahl der angezeigten Straftaten. Eine Schülerin gab zu, sie war sich des Ausmaßes nicht bewusst, aber hätte selbst noch nie Antisemitismus miterlebt. Andere hingegen, gaben offen zu, schon einmal antisemitische Beleidigungen und Vorurteile mitbekommen zu haben. Anschließend teilten sich die Klassen auf und vertieften die Diskussion in von Pädagog*innen geleiteten Workshops in ihren Klassenzimmern.
Das Stück kommt zur richtigen Zeit. Antisemitismus und die Gewalt gegen Menschen jüdischen Glaubens war und ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Die Zahl judenfeindlicher Gewalttaten stieg 2022 im Vergleich zum Vorjahr von 63 auf 88 Delikte. Das Bundeskriminalamt verzeichnete für das Jahr 2022 bisher 2.639 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund. Im Jahr 2021 waren es 3.028 Delikte. Allerdings fehlen noch die üblichen Nachmeldungen aus dem vierten Quartal 2022. Es ist also zu erwarten, dass die Zahl der gemeldeten Straftaten noch deutlich steigen wird. In den vergangenen vier Jahren nahm die Zahl der Meldungen stetig zu. Die Corona-Pandemie und die damit einhergegangen antisemitischen Verschwörungstheorien werden ihren Beitrag ebenfalls dazu geleistet haben.
Jüdinnen und Juden sind in Deutschland nicht sicher. Sie erleben regelmäßig Anfeindungen und Angriffe. Eine Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zeigt, wie alltagsprägend Antisemitismus ist – weil Juden bestimmte Orte meiden, weil sie nicht gern als Mieter gesehen sind, weil Eltern sich bei einem Schulausflug nicht nach der Verpflegung, sondern dem Sicherheitskonzept erkundigen. Wegen der permanenten Bedrohung machen sich viele Jüdinnen und Juden unsichtbar: Sie verzichten auf den Davidstern-Anhänger, den Rucksack des jüdischen Sportverein Makkabi oder die Kippa. Und das in Deutschland, im Jahr 2023.
Gemeinsam mit zahlreichen Partner*innen wie u.a. dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben oder der RIAS stellt das JTA ein wichtiges Projekt auf die Beine, das dort ansetzt, wo vielleicht noch ein Sinneswandel zu erhoffen ist: bei der jungen Generation.
Das Tacheles-Paket besteht aus zwei Teilen, einem Impulstheater in der Schulturnhalle mit anschließendem Nachgespräch sowie Workshops. Das mobile Theaterstück kann bayernweit gebucht werden. Für Herbst sind auch öffentliche Veranstaltungen geplant.
Anna Hahn a3kultur-Redaktion 03.03.2023
Ein Stück über die Alltäglichkeit des Antisemitismus
Mit dem mobilen Turnhallen-Theater „Tacheles“ spielt das Junge Theater Augsburg in Schulen. Zur Premiere in St. Stephan erlebte es ein interessiertes, waches, staunendes Publikum.
In ihrer WG-Küche kommen Paul (Sebastian Baumgart) und Kinan (Ramo Ali) nach einer alkoholdunstigen Partynacht langsam zu sich. Schlecht geht es ihnen, wie sie da so auf den Holzstühlen lümmeln. Sie gehen die Erlebnisse der Nacht durch, wer mit wem in der Ecke geknutscht hat und woher Paul weiß, dass die jetzt zusammen sind. Paul ist deutsch, nur deutsch, sonst nichts. Kinan, erklärt Paul, sei auch Deutscher, aus Syrien, mit „terroristischem Hintergrund“.
Ein guter Gag. Kichern und Ellenbogen-Stoßen auf den Bänken der Turnhalle im Gymnasium bei St. Stephan. Die Neuntklässler saugen das Geschehen auf der Bühne auf. Energiegeladen geht es zu, auch Stühle fliegen an diesem Vormittag. Etwa 100 Zuschauerinnen und Zuschauer sind zur Premiere von „Tacheles“, dem neuen Stück des Jungen Theater Augsburg (JTA) in die Halle gekommen. Zwei Schulklassen sowie Ehren- gäste aus dem Sozialministerium, der Stadtverwaltung, Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Bayern (RIAS), dem Jüdischen Museum und dem Landkreis Coburg. Mit allen gab es im Vorfeld Kooperationen und Recherchen, bis das 50-minütige Stück stand.
In der WG dämmert es Paul und Kinan, dass ihre Mitbewohnerin Irina fehlt. Im Hintergrund ertönt eine Zeile des Rappers Farid Bang. „Definierte Körper“ und „Auschwitz“ kommen in den wenigen Takten vor. Der Song lenkte 2018 erstmals die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf den neu- en Antisemitismus im deutschen Hip-Hop. Kann es sein, dass Irina deswegen weg ist? Sie ist Jüdin, aber nicht besonders gläubig. Wie Paul nicht besonders katholisch und Kinan nicht besonders muslimisch ist. „Irina ist nicht deswegen weg, sie ist tough, sie hätte das thematisiert“, sagt Kinan.
Die beiden erzählen, wie Farid Bang und Kollegah nach dem Skandal Auschwitz besuchten. Irina hat doch auch, wenn sie mit ihrer Makabi-Mannschaft spielte, von Sprüchen auf dem Fußballplatz berichtet. „Judensau“, sagten die anderen, wenn Irina jemanden foulte. Schnell feuern die WG- Freunde Alltäglichkeiten des Antisemitismus in Deutschland ab: In 70 Prozent aller Spiele der 37 Makabi-Clubs in Deutschland gibt es judenfeindliche Sprüche, Andeutungen zu Gaskammern. 50 Prozent der in einer Studie befragten Schüler haben auf dem Schulhof schon „Jude“ als Schimpfwort gehört oder aus „aus Spaß“ schon selbst benutzt. Die zwei jüdischen Schulen in Deutschland haben schusssichere Fenster, Gitter davor und Überwachungskameras. „Stell dir vor, du hast nichts gemacht, aber bist in Gefahr“, sagt Paul.
Kinan erzählt, auch in Syrien seien judenfeindliche Sprüche alltäglich gewesen. „Ich sollte nicht in die jüdische Straße zum Fußballspielen gehen. Die Juden fressen kleine Kinder, hat meine Mutter zu mir gesagt. Später erfuhr ich, sie sagte das, damit ich mir nicht die Hosen dreckig machte.“ Es koste Energie, sich zu kontrollieren, diese Dinge nicht zu sagen. Und aus dem Off knallt es. Eine Nachrichtensprecherin: „Unbekannte haben einen Brandanschlag, einen Sprengstoffanschlag auf die Synagoge verübt.“
Derweil steuert die Suche nach Irina auf ihren Höhepunkt zu. Die beiden stürmen durch die Halle in die hinteren Katakomben, man hört sie aus den Umkleideräumen schreien. Die Spannung entlädt sich in gegenseitigen Beschimpfungen, Beleidigungen, Stühle fliegen. Weil Paul sagt, Israelis hätten den Falafel erfunden, nicht die Syrer, dreht Kinan durch.
Es ist ein eindringlich politisches sowie unterhaltsames Stück, das Sebastian Baumgart und Ramo Ali als glaubwürdiges und für das junge Publikum nahbares WG-Team umsetzen. Cool, aber keine Rapper-Typen. Baumgart, aus Produktionen des Staatstheaters bekannt, arbeitet seit 2020 freiberuflich. Ali war Schauspieler am Nationaltheater in Damaskus, bevor er Syrien 2011 verlassen musste. Er lebt in Ulm und wurde schon für Rollen beim „Tatort“ und in der Serie „4 Blocks“ angefragt.
Unter der Regie von JTA-Theaterleiterin Susanne Reng entstand mit „Tacheles“ eine Mischung aus Spannung, Witz und Informationen zum Antisemitismus. Bei den Jugendlichen hinterließ das Eindruck: Ja, auf dem Schulhof fielen häufig solche Sprüche, sagt eine Schülerin. Dass die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland so hoch ist, habe sie erstaunt, sagten mehrere Schüler und Schülerinnen im Nachgespräch.
Stefanie Schoene Augsburger Allgemeine 04.03.2023
Ein Stück gegen Vorurteile
POLITISCHE BILDUNG
„Tacheles“soll der Prävention von Antisemitismus dienen. Das Junge TheaterAugsburg tritt damit zur Premiere an der Staatlichen Realschule CO II in Coburg an.
Coburg – Paul, Kinan und Irina wohnen gemeinsam in einer WG. Ihre unterschiedlichen Herkünfte und Religionen spielen dabei keine Rolle. Bis heute: Denn seit der Party gestern ist Irina verschwunden. Hat irgendwer auf der Party schlechten Gangsta-Rap aufgelegt, der sie als Jüdin beleidigt haben könnte?
In dem Präventionstheaterstück „TACHELES“, das am Dienstag an der Staatlichen Realschule CO II bayernweit Prämiere feierte, geht es um Antisemitismus und vor allem um die Stärkung des Demokratiebewusstseins. Denn Antisemitismus ist leider noch immer aktuell – ob im Alltag quer durch die Gesellschaft bis hin zu Verschwörungsmythen und Übergriffen. Auch vor deutschen Schulhöfen macht er nicht Halt.
Mobiles Theater
Deshalb hat der ehrenamtliche Integrationsbeauftragte des Landkreises Coburg, Kanat Akin, ein Präventionstheaterstück initiiert: „TACHELES“. Konzipiert vom Jungen Theater Augsburg, fand die bayernweite Premiere des mobilen Jugendtheaterstücks mit ernstem Hintergrund an der Staatlichen Realschule CO II in Coburg statt und ist ab sofort für Schulen (ab Jahrgangsstufe 8) in Bayern buchbar.
„Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in seinem letzten Lagebild zum Antisemitismus in Deutschland klar festgestellt: Die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten steigt kontinuierlich an. Wir müssen dies als Angriff auf uns alle und auf unsere offene Gesellschaft qualifizieren und uns diesem entgegenstellen. Denn Antisemitismus geht uns alle an“, erklärt Akin, der zugleich Vorsitzender des Begleitausschusses der Partnerschaften für Demokratie im Landkreis Coburg ist.
Landrat Sebastian Straubel dankt Kanat Akin für die Initiative: „Aufklärung und Prävention sind enorm wichtig für einen respektvollen und friedlichen Umgang miteinander. Wir brauchen mehr Verständnis füreinander. Mit Präventionsprojekten wie ,TACHELES‘ wird deutlich vor Augen geführt, warum manche Äußerungen verletzend sind. Verständnis schafft man am besten durch Veranschaulichung. Das passiert bei TACHELES, insbesondere durch das geniale Konzept, dass das Thema im Nachgang an das Stück in Workshops noch vertieft wird. Somit bin ich zuversichtlich, dass wir mit solchen Projekten etwas verändern und mehr Demokratiebewusstsein schaffen können. Wir dürfen nur nie locker lassen.“
Nach den bayernweit erfolgreichen Präventionsstücken „KRASS! Hauptsache radikal“ und „#HASS – Hauptsache radikal“ hat das Junge Theater Augsburg mit „TACHELES“ (jiddisch für: Klartext reden) sein neuestes Präventionsprojekt für Jugendliche zur Stärkung des Demokratiebewusstseins präsentiert: „TACHELES“ basiert auf Recherchematerial, autobiografischen Erlebnissen und O-Tönen junger Jüdinnen und Juden. Mit markanten Beispielen aus dem Fußballverein, dem Rap und der Verschwörungsszene sensibilisiert „TACHELES“ sein junges Publikum für antisemitische Vorurteile.
Im Nachgang zu dem Impulsstück findet mit den Schulklassen auch jeweils ein Workshop mit Theaterpädagoginnen und -pädagogen statt, um das Stück zu reflektieren. Sie setzen sich dabei mit Vielfalt als wertvollem Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft ebenso auseinander wie mit Zivilcourage als möglichem Umgang mit antisemitischen Vorfällen auf dem Schulhof.
„Antisemitismus ist leider ein Alltagsphänomen in unserer Gesellschaft. Jüdinnen und Juden erleben ihn auf dem Schulhof, auf dem Sportplatz und bei unzähligen anderen Gelegenheiten“, weiß Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Deshalb seien derartige Präventionstheaterstücke so wichtig: „Das kreative Projekt ‚Tacheles‘ des Jungen Theater Augsburg hält dagegen, klärt über jüdisches Leben in Deutschland auf und kann so Vorurteile abbauen“, so Schuster.
Minsterium fördert das Projekt.
Die bayernweite Ausrollphase des Stücks wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales im Rahmen der Radikalisierungsprävention gefördert. Staatsministerin Ulrike Scharf betont die Bedeutung des Theaterstücks für die Antisemitismusprävention: „,TACHELES‘ spricht Jugendliche direkt an – mit viel Gefühl wird zum Nachdenken angeregt. Es ist mir ein großes Anliegen, unsere Jugendlichen für den alltäglichen Antisemitismus zu sensibilisieren und Zivilcourage zu stärken. Das schafft das Theaterstück, das mit Workshops begleitet wird, ganz hervorragend! Herzlichen Dank an das Junge Theater Augsburg für den großen Einsatz in der Antisemitismusprävention.“
„TACHELES“ entstand im Auftrag von Kanat Akin in Kooperation mit dem Landkreis Coburg und wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben! und vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales sowie von der Niederfüllbacher Stiftung.
Corinna Rössler Landkreis Coburg Pressemitteilung Neue Presse Coburger TagesBlatt 17.02 2023