Talisman

Mittelsächsisches Theater Freiberg

Jahr: 2022

Regie: Silke Johnna Fischer

Bühne u. Kostüme: Stefan Morgenstern

Musik: Fred Sporer und Dominik Tremel

Foto: Janine Haupt, Privatarchiv

Project Description

Rot ist eine schöne Farbe

mit der umjubelten satirischen Posse von Nestroy
beginnt in Freiberg die neue Theatersaison

Wie wird ein arbeitsloser hübscher junger Mann mit hungrigem Magen schnell reich? Er wickelt drei liebeshungrige Witwen mit wohlgesetzten Worten und feurigen Augen um den Finger. Erst bezirzt eine schmachtende Gärtnerin, danach die lüsterne Kammerfrau und zuletzt die literarisch dilettierende Schlossherrin. Titus klettert von Witwe zu Witwe immer höher auf der Karriereleiter. Dieser kleine Bel Ami weiß: „Man braucht kein Talent, wenn man nur jemanden kennt.“
Am Wochenende eröffnete das Mittelsächsische Theater in seiner Freiberger Spielstätte mit einem großen Fest und der begeistert aufgenommen Premiere des Stückes „Der Talisman“ die Saison. Ein gelungener Start für das neue Leitungsteam um Intendant Sergio Raonic Lukovic. Die „Posse mit Gesang“ stammt aus der Feder des wohl populärsten Vertreters des Wiener Volkstheaters Johann Nestroy. Er spielte bei der Uraufführung 1840 selbst die Hauptrolle. Der Autor nimmt satirisch, sozialkritisch und spöttisch Spießertum, Standesdünkel und Vorurteile aufs Korn. Und siehe da, die Komödie ist von erstaunlicher Aktualität. Der vagabundierende Titus wird wegen seiner roten Haare geächtet, ebenso die ihm wesensverwandte rothaarige Gänsemagd Salome. Rote Haare führten zur Ausgrenzung – wie heute Hautfarbe, Herkunft, politische Ansicht oder sexuelle Orientierung zu Ablehnung und Ausgrenzung führen können.
Die Inszenierung von Silke Johanna Fischer lässt aktuelle Bezüge anklingen, verzichtet aber auf platte Vordergründigkeit. Sie setzt auf eine schräge, bissige Spielweise. Auf der Bühne eine riesige blaue Torte, mit drei gut bespielbaren Ebenen, die Stände symbolisierend: Arme, Aufsteiger, Herrscher. Ausstatter Stefan Morgenstern steckt das spielfreudige Ensemble in Biedermeier Kostüme der Nestroy-Zeit. In diesem Stück machen nicht nur die Kleider Leute, sondern Perücken. Mit falschen schwarzen Locken gewinnt Titus die Frauen. Einer nach der anderen verspricht er Liebe, Lust und Leidenschaft. Die Witwen statten ihn zum Dank mit der Kleidung der verstorbenen Ehemänner aus. Als der Schwindel plat, werden die die Damen zu Hyänen und jagen Titus zu Schloss hinaus.
Der zweistündige Abend lebt vom unterhaltsamen Speil der Akteuere und der Musik von Fred Sporer und Dominik Tremel. Die Songs, Couplets und Lieder treiben die Handlung voran. Hinreißend der musicalerfahrene Alexander Donesch als Titus. Elegant, betörend, mal fies, mal feurig, mit Rhythmus im Blut. Er durchschaut die Menschen, will hoch hinaus und landet doch unsanft auf der Erde. Dabei ist ihm die quicke, selbstbewußte, auf Händen laufende Salome von Nathalie Heiß, neu im Ensemble, eine ideale Partnerin. Wenn beide im Duett singen und Tänze voller Witz und Tempo aufs Parkett zaubern, rauscht es Szenenbeifall. Beeindruckend die vielen Witwen: Susanna Voß als vergebliche Gärtnerin aus Liebe, Rosmery Rojas Maturana als machtbewusste Kammerfrau, und Conny Grotsch als schrille Fürstin. Stark die Doppelrollen: Martin Ennulat als eifersüchtiger Friseur und eifriger Diener sowie Andreas Pannach als rassistischer Onkel und homosexueller Bruder der Herzogin.
Wie es sich für eine Posse gehört, naht das gute Ende in Gestalt des reichen Onkels, der mit Führergruß die Bühne betritt. Titus galt ihm als Schandfleck der Familie. Wie er den Neffen erblickt, der sich rasch eine graue Perücke auf den Schopf stülpt, ergreift ihn Rührung und er setzt ihn als Universalerben ein. Da sie das Geld wittern, finden auch die Witwen den Rotschopf plötzlich wunderschön, pfeifen auf die Moral und wollen den Heiratsschwindler wiederhaben. Aber der hat sich endlich für die umwerfende Gänsehüterin Salome entschieden. Ein anrührendes Liebespaar, wie es sich kein Romantiker schöner wünschen könnte. Anders als im Original steigen die Darsteller aus ihren Rollen, legen die Masken ab und singen im Chor: „Rot ist doch gewiss eine schöne Farbe“. Wer wollte da Wiedersprechen?

 

Rainer Kasselt 2.10.2022

Der schöne, verlogene Schein

In Freiberg hatte Johann Nestroys musikalische Komödie „der Talisman“ Premiere – mit mehrfachem Szenenapplaus für Wortwitz, gelungene Gesangs- und Tanzeinlagen.

Johann Nepomuk Nestroy war der Star des Wiener Boulevardtheaters im 19. Jahrhundert. Seine Stücke – wie „Der Talisman“, das am Sonntag am Mittelsächsischen Theater Freiberg Premiere feierte – hatten schon zu Lebzeiten Erfolg, seine Liebschaften waren Legende, sein frecher Mund ebenso. Als er in den Jahren vor den 1848er Revolution die Bäcker kritisiert hatte, weil sie kleinere Brötchen anboten, aber zu selben Preis wie früher, musste er einen Tag in den Arrest und sich öffentlich entschuldigen. Was er auch tat, aber nicht ohne den Arrestwärtern zu danken, daa sie ihm Brötchen durchs Schlüsselloch geschoben hätten.
   Die Anekdote unterstreicht: Nestroy, der von 1801 -18862 lebte, ist immer noch aktuell. Und so hat Regisseurin Silke Johanna Fischer mit ihrer frischen, flotten Inszenierung in Freiberg kein Körnchen Staub an dem 1840 uraufgeführten Stück gelassen. Dass in der Bearbeitung von Oskar Weber gegenüber dem Original einige Personen und Nebenhandlungen fehlen, tut dem Stück ebenso gut wie die leicht modernisierte Sprache und vor allem die zeitgemäßen und poppigen Gesangseinlagen (Musik von Fred Sporer und Dominik Tremel) nebst originell choreografierten Tanzszenen, an denen sich alle Darstellerinnen und Darsteller beteiligen dürfen.
   Die haben es mit einer, wie oft bei Nestroy eher schlichten Handlung zu tun, in der sie erfahren, was eh alle wussten: Nicht nur Kleider machen Leute, auch Perücken. Vor allem, wenn man rothaarig ist wie Titus Feuerfuchs – eloquent, pointensicher und schlagfertig gespielt von Alexander Donesch – und die Gänsehirtin Salome Pockerl – erfrischend selbstsicher und sympathisch naiv: Nathalie Heiß. Leicht zu erkennen, dass die roten Haare hier für jede moderne Art von ausgegrenzter Minderheit stehen, was vor allem, so die Protagonisten, auf dem Land ein Malheur sei, in den Städten gebe es ja genügend Rtohaarige.

Eine sehr sehenswerte Inszenierung, die geschickt Slapstick-Elemente und poppige Lieder einbaut und sich nicht plakativ auf eine Seite stellt.

„So kopflos urteilt die Welt über die Köpfe“, sagt Titus. Im Dorf aber hilft ihm eine schwarze Perücke, die er sich bei einer Lebensrettung des Friseurs, Monsieur Marquis (Martin Ennulat großartig als verschlagener Haarkünstler wie später als Diener),verdient. Und die ihm sogleich die Herzen (oder was davon übrig ist) dreier Damen zufliegen lässt. Die verwitwete Gärtnerin Flora Baumscheer zeigt sich einer neuen Verbindung ebenso offen wie die Kammerfrau Konstanze und schließlich Schlossherrin Frau von Cypressenburg selbst.
Susanna Voß als proletarische Gärtnerin, Rosmery Rojas Maturana als der Macht näherstehende Kammerfrau und Conny Grotsch als dichtende Schlossherrin, die auf verschiedenen Stufen den von Stefan Morgenstern ins Bühnenbild gesetzten Standespyramide stehen, lassen die drei Frauen in ihrem individuellen, dabei auch rücksichtslosen Glücksanspruch wunderbar lebendig werden. Den nicht nur für den Kapitalismus typischen Aufstiegskampf um Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung kommentiert Gärtnergehilfe Putzerkern (spöttisch-hintergründig: Michael Berger) mit wissender Distanz.
   Natürlich fliegt der Schwindel auf, woran Emil, der Bruder der Frau von Cypressenburg seinen Anteil hat, den Andreas Pannach dann schnell in den bierbrauenden Onkel Spund verwandelt, der die Vorurteile gegen Rothaarige, also gegen Minderheiten am intensivsten pflegt, was etwas aufdringlich mit Hitlergruß („Ich tue nur was der Meister mir aufgetragen hat“) unterstrichen wird. Woraufhin Titus schließlich doch in die Arme des rothaarigen Gänselieschens getrieben wird und das Stück mit regenbogenfarben im Hintergrund und Friede, Freude, Eierkuchen im Vordergrund („Rot ist im Grunde so übel nicht“) etwas zu banal endet.
   Aber dennoch: Eine sehr sehenswerte Inszenierung, die die pointierten Dialoge, den Wortwitz Nestroys eindrucksvoll zur Geltung bringt, geschickt Slapstick-Elemente und poppige Lieder einbaut und nicht plakativ auf eine Seite stellt. Titus ist als Minderheit nicht automatisch „der Gute“, sondern eher Emporkömmling, denn für seine Anpassung auch Lügen nicht fremd sind. Die Mehrheit wiederum hat auch ihre legitimen Glücksansprüche, deren Erfüllung aber ebenso auf Lügen gebaut sein kann. Robert Musil hatte deshalb bei Nestroy-Stücken „das entmutigende Gefühl, wie bei der Berührung mit einem untiefen Menschen“. Das widerspricht gar so sehr dem Loblied, das Karl Kraus auf den Dramatiker verfasste: „in den fünfziger Jahren nach seinem Tod hat der Geist Nestroys Dinge erlebt, die ihn zum weiterleben ermutigen. Er steht eingekeilt zwischen Dickwänsten aller Berufe, hält Monologe und lacht metaphysisch.“
   Gelacht wurde reichlich bei der ausverkauften Premiere in Freiberg, es gab viel Szenenapplaus nach eineigen Liedern und viel Beifall zum Schluss. Und auf dem Heimweg passt ein altes Lied von Wolfgang Ambros, dann auch im Dialekt: „A jeda gheat zu ana Minderheit, / An jedn geht‘s wos o; / A jeda hot a Handicap, / An jedn geht‘s aso. / Dea ane hot goanix, / da aundere hot a Göd, / Dem an gheat da Himmel und, / Dem anundan gheat de Wöd.“

Matthias Zwarg