Tschick

Tschick

nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf

Freilichtspiele Schwäbisch Hall

Jahr: 2015

Regie: Silvia Armbruster

Bühne u. Kostüme: Stefan Morgenstern

Dramaturgie: Ernst Konarek / Georg Kisten

Foto: Mark Noormann / Jürgen Weller

Project Description

Frisch, mutig und charmant – „Tschick“ ein Meisterstück über das Erwachsenwerden

Ein Berg irgendwo zwischen Berlin und der Walachei. Tschick und Maik erleben das Abenteuer ihres Lebens. Isa, das Mädchen von der Müllkippe, hat sich wie eine Klette an die beiden drangehängt und schnell deren Sympathien gewonnen. Über den drei Freunden funkeln die Sterne. Es ist ein Moment, für den man die Welt anhalten möchte. Deshalb schwören sich die drei, sich in zehn Jahren genau dort wieder zu treffen.

Und so beginnt die Inszenierung von Silvia Armbruster zehn Jahre nach dem Schwur auf dem Berg: Maik (Florian Peters) und Isa (Corinne Steudler), inzwischen junge Erwachsene, warten am Gipfelkreuz auf Tschick (Pedro Stirner).

(…)
Die Freilichtspiele Schwäbisch Hall kommen für dieses Stück mit drei Schauspielern aus. Das liegt auch an der facettenreichen Corinne Steudler, die in sechs verschiedene Rollen schlüpft. Brilliant ist sie als Schütze Horst Fricke. Minutenlang hält sie die kehlige Stimme durch, von der unsereins nach drei Sätzen einen Hustenanfall bekommen würde. Dazu ihre Zunge, mit der sie beim Sprechen genial-grotesk ihre Oberlippe benetzt.

Witzig sind auch die Überraschungseffekte. Ein Stapel Reifen an einem Seil, der vom zweiten Rang nach unten auf die Bretterbühne saust, als Tschick und Maik mit dem Lada in einen Laster krachen. Oder das Pinkeln von Isa, das lustig ist, ohne zotig zu wirken.
Bei Florian Peters fällt auf, wie gekonnt er mit verschiedenen Gefühlswelten umgeht. Seine Mimik könnte kaum zartsinniger sein. Mit wenigen Mitteln schlüpft er ganz schnell in unterschiedliche Rollen wie den Lehrer Wagenbach oder den Lackaffen vom Golfclub. Außerdem singt er in mehreren Gesangsstilen gut, etwa Pop, russischer Folklore und klassischem Liedgesang.

Charmant, lustig und unglaublich lebensbejahend: Den Freilichtspielen ist mit „Tschick“ ein Meisterstück gelungen. Nicht eine Sekunde der zwei Stunden dauernden Aufführung ist langweilig. Dafür sorgt auch Pedro Stirner, der russlanddeutsche Huckleberry mit großem Herz. Seinem russischen Akzent könnte man ewig zuhören. Er spielt nicht Tschick, er ist Tschick. Eine Spitzen-Auswahl des Ensembles durch Regisseurin Silvia Armbruster und ihr Team, die Dramaturgen Ernst Konarek und Georg Kistner sowie Regieassistentin Elly Nabel.

Stefan Morgenstern, verantwortlich für Bühne und Kostüme, hat die Bretterbühne im Globe-Theater in eine große Baustelle verwandelt, mit Benzinfass, Betonmischer, Warnhinweisschildern, alten Autoreifen, Baugerüsten und weiteren tollen Details. Sicher eine Anspielung darauf, dass das Globe-Theater marode ist.

An diesem Freitagabend jedoch ist nur die Bühne eine Baustelle. Der Rest läuft fabelhaft. Auch die Interaktion mit dem Publikum. Zum Beispiel als Maik und Tschick bei der spinnerten, aber netten Großfamilie zu Mittag essen. Im Buch müssen sich die beiden ihren Nachtisch, weißen Schaum mit Himbeeren, durch richtige Antworten auf Wissensfragen verdienen. Im Globe bekommen die Zuschauer die Dessertschälchen auch ohne Gegenleistung. Es scheint zu schmecken. Sehr sympathisch ist in dieser Szene Corinne Steudler als Öko-Mutter mit Schweizer Dialekt. Dieser dürfte der in Luzern aufgewachsenen Schauspielerin gewiss nicht schwer gefallen sein.

Auffallend ist der lässige Umgang mit den Requisiten wie etwa Autoreifen und Stühle, die von den Schauspielern elegant auf die Bühne drauf und wieder runter geräumt werden. Beeindruckend ist auch, wie sie das Bühnenbild bespielen und alle Ebenen des Globe-Theaters nutzen, allein vom sportlichen Aspekt eine prima Leistung.

Die rund 350 Premierengäste spenden sehr langen Applaus, stampfen mit den Füßen – und applaudieren noch lauter, nachdem Regisseurin Silvia Armbruster eine rote Rose auf die Bühne gelegt hat. „Wolfgang Herrndorf“, sagt sie, „der Autor dieses großartigen Stückes, wäre heute 50 Jahre alt geworden. Schließen Sie ihn bitte in Ihren Applaus mit ein.“

Verena Butler / Haller Tagblatt 2015

„Vorsicht Baustelle!“, warnen die Schildertexte auf der Bühne im Globe-Theater Schwäbisch Hall.

Ein Hauch von Stuttgart 21? Egal. Autoreifen und Tonnen und jede Menge Schutt. Ein Rollgerüst reicht bis zum ersten Rang im Schwäbisch Haller Globe-Theater. „Die will sich wichtigmachen!“, brüllt von dort oben Andrej Tschichatschoff oder kurz: Tschick (Pedro Stirner). Mit „Die“ meint er das von lediglich einem weißen, weiten, ärmellosen Shirt umhüllte Müllkippenmädchen Isa (Corinne Steudler). Isa spottet schonungslos über ihr Gegenüber, schmäht ohne Unterlass und belfert dabei so gellend – man möchte direktemang einen Exorzisten frequentieren. „Du kleiner Scheißer, dich mach’ ich Matsch!“ findet sich noch unter ihren harmlosen, halbwegs guten Gewissens zitierbaren Provokationen. Die beiden jagen einander durch die Szenerie, während Maik (Florian Peters) in braunem Anzug und beige Pullunder unparteiisch im Abseits ruht.

(…) Silvia Armbruster inszeniert die Geschichte des graumäusigen Teenagers Maik, der mit dem deutschrussischen Außenseiter Tschick einen Roadtrip im geknackten Lada erlebt. Obzwar es in Koalls Version keinen wahren Protagonisten gibt, spielt sich Pedro Stirner mit russischem Akzent und häufigem Emotionswechsel in den Vordergrund. Angst, Schmerz, Enthusiasmus, Aggression, Komik – er kann’s. (…)

Cornelius W. M. Oettle  / Nachrichten

Im ausverkauften Globe: Tosender Applaus für „Tschick“

Nur drei Schauspieler in wechselnden Rollen braucht das dichte Roadmovie „Tschick“ im Haller Globe-Theater, um die Zuschauer zu faszinieren.

Der transparente weiße Vorhang fällt überraschend – begleitet von einem Schrei. „Aaah“, ruft Maik Klingenberg (Nils Klitsch) laut und schüttelt den so aufgeschreckten Zuschauern die Hand. Doch nicht nur das Bühnenbild (Stefan Morgenstern) ist bei der Wiederaufnahme-Premiere von „Tschick“ mit Schildern, Leitern, Wasserbecken und Baugerüsten voller Einfallsreichtum und Effekte (Regie: Silvia Armbruster).

Die Bühnenfassung (Robert Koall) des erfolgreichen Jugendromans von Wolfgang Herrndorf beginnt mit einer Rückblende: Man trifft sich zehn Jahre nach dem gemeinsamen Abenteuer. Das Warten auf Tschick (Pedro Stirner) startet mit einem „Stunt“ von Maik: Er hängt zappelnd in der Luft, da ihm die schöne Isa (Corinne Steudler) die Leiter weggezogen hat. Hüftkreisend und popowackelnd in knackig engen Hosen versucht sie, Maik zu verführen. Im Gegensatz zum Roman endet die Beziehung hier mit einem vollzogenen Kuss.

Doch erst werden Szenen eines Abenteuers und einer Freundschaft aus Maiks Perspektive vorgetragen. Facettenreich gibt Nils Klitsch als Maik Klingenberg sowie in zwei weiteren Rollen sein überzeugendes Debüt bei den Haller Freilichtspielen.

Die 14-jährigen Außenseiter Maik und Tschick fahren mit einem geklauten Lada durch die deutsche Provinz. Glaubhaft wird mithilfe von Baugerüst, Reifenstapeln und Lenkrad das Auto simuliert. Genial die zuckenden jugendlichen Fahrer, die Luftgitarre spielend ins Ungewisse fahren und den Sternenhimmel bewundern. Zurück lassen sie die Enttäuschung über eine verpasste Partyeinladung, die zerrüttete Ehe von Maiks Eltern, die Vergangenheit Tschicks, der es über Förderschule, Heime und das kleinkriminelle Milieu als Spätaussiedler bis ins Gymnasium geschafft hat.

Ziel der Ausreißer aus Berlin ist die Walachei. Auf der Fahrt treffen sie Isa auf einer Müllkippe. Sie hilft beim Benzinklau. Auch sonst begegnen sie besonderen Menschen wie Mutter Friedemann, der dicken Sprachtherapeutin oder Horst Fricke mit kehliger Stimme und Gewehr. Alle brillant gespielt von Corinne Steudler.

Liebenswert ist der russisch-deutsche Slang bei Tschick (Pedro Stirner), der meist wortkarg, aber lässig kommentiert. Mit der Ziehharmonika vertont er seine Gefühle. Sex, Komplexe, Freundschaft, Naturerfahrung oder Tod sind die Themen, um die es sich bei den Jugendlichen dreht. Die deutschen, englischen und russischen Liedtexte untermalen das Roadmovie mit Lagerfeuerromantik. Die drei Schauspieler zeigen sich stimmstark.

Maik und Tschick erleben einen unvergesslichen Sommer, der vor Gericht, mit Verletzungen und Trennung voneinander endet. „Das Seltsame war, dass wir auf dieser Reise diesem einen Prozent der Menschen begegnet sind, das nicht schlecht ist“, resümiert Maik verwundert.

Einfallsreich ist der Wechsel der Erzähler. Mal zitiert Corinne Steuder mit dem Roman in der Hand Schlüsselszenen, mal nimmt sich Nils Klitsch alias Maik aus der Szene heraus und kommentiert sie selbst. Lacher belohnen nicht nur derbe Sprüche. Slapstick wie der um eine zerschmetterte Melone erheitert ebenfalls. Die Schauspieler interagieren häufig mit den Zuschauern.

Das Bühnengeschehen spielt auf allen drei Ebenen des Globe-Theaters. Sportlich klettern die Akteure über Leitern, Gerüste und Treppen. Das zweistündige Stück ohne Pause ist durchgehend packend und oft lustig. Aber auch die nachdenklichen Momente haben Raum. Entsprechend begeistert zeigt sich das Publikum im ausverkauften Globe-Theater: Der Schlussapplaus scheint nicht enden zu wollen.

Maya Peters / Haller Tagblatt Südwestpresse 2016