Struwwelpeter

Shockheaded Peter

Die Theater Chemnitz Schauspiel

Jahr: 2016

Regie: Carsten Knödler

Bühne u. Kostüme: Stefan Morgenstern

Dramaturgie: René Schmidt

Musikalische Leitung: Steffan Claußner

Foto: Dieter Wuschanski

Project Description

Ein Fest für Mimen

Zum Auftakt der Schauspielsaison hat Spartenchef Carsten Knödler den ‚Struwwelpeter‘ der Londoner Band The Tiger Lillies auf die Bühne geholt.

Ob das Stück den Anforderungen eines Musicals entspricht, sei dahingestellt. Die Autoren haben es ohnehin als ‚Junk-Opera‘ klassifiziert. Immerhin bietet die nach Heinrich Hoffmanns ‚lustigem Erziehungsbuch für die Untertanenschmiede‘ (Gunnar Decker) entstandene Fassung prächtiges Futter für einen fantasiebegabten Regisseur und ein ihm begeistert folgendes Ensemble. An beidem mangelt es in Chemnitz nicht.

In trauter Zusammenarbeit mit seinem Bühnenbildner Stefan Morgenstern beschwört Knödler eine an Dracula, Frankenstein und die Addams-Family erinnernde Atmosphäre herauf. Selbst das berühmte ‚Händchen‘ gibt sich die Ehre. Im gruseligen Ambiente eines Leichenackers feiern Hoffmanns Figuren fröhliche Urständ. Gemeinsam mit dem Dramaturgen René Schmidt legt der Schauspieldirektor eine Version vor, die aktuelle Anspielungen nicht ausspart, ohne dabei der Vorlage Gewalt anzutun. Dem nicht erst seit den ‚Monty Pythons‘ berühmt-berüchtigten Humor der Briten, eine intellektuelle Glanzleistung sondergleichen, wird dabei eine grandiose Reverenz erwiesen.

Für das bestens aufgelegte Ensemble steigert sich die Aufführung nach einem etwas zögerlichen Beginn zu einem umwerfenden komödiantischen Fest, das allen Beteiligten die Möglichkeit einräumt, ihrem Affen Zucker zu geben. Wenn dabei weder die Akteure noch das Publikum über Magenverstimmungen zu klagen brauchen, ist dies dem Regisseur zu verdanken, der sorgsam darauf achtete, dass keinem der Mitwirkenden die Pferde durchgingen. Hier ward nicht nur darstellerisch, sondern auch gesanglich überaus Glaubwürdiges geleistet, ein Fakt, für den Steffan Claußner, dem musikalischen Leiter der Produktion, Anerkennung gebührt. Denn er sorgt mit seinen drei Mitstreitern für den musikalischen Aufwind der Vorstellung. Und wenn sich darüber hinaus fast alle Protagonisten des Abends noch als versierte Instrumentalisten erweisen, dann ist des Jubels kein Ende. In diesem Zusammenhang möchte ich nur den einschlägig vorbelasteten Philipp von Schön-Angerer und den mit einem virtuosen Saxofon-Solo aufwartenden Andreas Manz-Kozár hervorheben. Den anderen Aktiven (Magda Decker, Ulrike Euen, Marko Bullack, Michel Diercks und Dominik Förtsch) sei ein dickes Pauschallob ausgesprochen. Falls Ihr Euch wirklich gut unterhalten möchtet, dann lege ich Euch ein Rendezvous mit dem ‚Struwwelpeter‘ ans Herz.

Blitz / Joachim Wiese

Bizarre Unterhaltung mit Musik der Tiger Lillies

Schön schräg

Blutrot öffnet sich der Samtvorhang. Ein weißer Engel schwebt hoch oben und schüttet Poesie über den düsteren Friedhof der ungehorsamen Kinder. Das wird schräg, so viel steht fest. Und darüber hinaus auch skurril, albern, beschwingt, schauerlich und mehrfach tödlich. Wer die Geschichten aus Heinrich Hoffmanns berühmtem Buch ‚Struwwelpeter‘ kennt, der weiß längst, dass Kinder, die nicht hören wollen, eine schlechte Überlebensprognose haben. Zumindest bei streng erziehenden Eltern, wie denen vom Struwwelpeter, vom Zappel-Philipp, vom Suppenkasper, vom Daumenlutscher, vom bösen Friedrich, vom Hans Guck-in-die-Luft, vom fliegenden Friedrich oder dem zündelnden Paulinchen. Sie alle steigen in dieser Inszenierung nun aus ihren Gräbern und erzählen ihre kruden Gesichten. Ausstatter Stefan Morgenstern achtet dabei streng darauf, dass sowohl der Schauplatz als auch die Untoten diesen bizarren und komisch-morbiden Charme mitbringen, als seien sie einem Tim-Burton-Film entsprungen. Und Regisseur Carsten Knödler lässt seinerseits nichts unversucht, um die Horror-Komödie immer neu mit Kurzweil aufzuladen. Da darf Philipp von Schön-Angerer auch gern mal den Klassiker mit der würgenden Skeletthand bringen, Ulrike Euen im geteilten Körper auftreten, Andreas Manz-Kozár am Saxophon brillieren, Marko Bullack mal wieder die Stöckelschuhe anziehen, Magda Decker im Kleid qualmen und Dominik Förtsch im Sarg niesen (auch wenn das womöglich unfreiwillig komisch war). Wobei das alles nur die Randnotizen sind zu einem Ensemble, das sich mit unbändiger Spielfreude durch die Groteske schlägt, singt, musiziert, während die Musiker unter Leitung von Steffan Claußner dem Ganzen die richtige Stimmung verpassen: zwischen Punk und Balkanbeat, Moritat und Blues. So nimmt dieses irre Treffen der Erziehungsopfer denn auch eine ganz eigene Dynamik an, kostet aus, wenn Daumen abgeschnitten werden oder böse Buben ihr Unwesen treiben und lässt dann wieder fünf Tage ohne Suppe im Fluge verstreichen. Tempo stimmt, Attitüde stimmt, Musik stimmt, Schauspieler brillieren, Vorhang zu – ein großartiger Saisonauftakt mit Suchtgefahr.

Stadtstreicher / Jenny Zichner

Pädagogik unterm Sargdeckel

Dieser ‚Struwwelpeter‘ ist nichts für Feiglinge – aber auch keine Abrechnung mit dem Original von 1845: In der Version der britischen Kultband The Tiger Lillies atmet der Stoff den morbide-spaßigen Charme eines Tim-Burton-Films. Wer das Kinderbuch ‚Struwwelpeter‘ wegen seiner Grausamkeit auf dem Index sieht, wird von der gleichnamigen Chemnitzer Musical-Inszenierung nach Lesart der Tiger Lillies ziemlich gegen den Strich gekämmt. Allein deswegen hätte man sich die pädagogischen Hinweise am Schluss des Stücks nach knapp zwei Stunden ohne Pause schenken können, wonach jeder vor seiner eigenen Haustür zu kehren hat, falls er sich zum besseren Pädagogen aufschwingen will: Denn bei aller Tiefe, die diese unernsten Szenen auch erreichen wollen, überwiegt hier der Spaß am Nonsense. Vor allem fasziniert die märchenhafte Groteske mit schaurig-schönen Untoten mit jeder Menge irrer Typen, die ihrerseits von einem grandios spielenden Ensemble prachtvoll überzeichnet werden.

Die Bühne zeigt einen romantischen Friedhof, schön gruselig und rätselhaft ausgeleuchtet wie in einer Märcheninszenierung: sanft abfallende Treppe, Brunnen, Kreuze, Grüfte. Hier gehen die Sargdeckel auf, Sargdeckel zu, geben sich untote Typen ein Stelldichein, die allesamt einen Knall haben. Normal ist hier nichts, aber was ist schon normal? Durchgespielt werden tatsächlich die Szenen aus dem Struwwelpeter-Kinderbuch von 1845 von Heinrich Hoffmann, eingebettet in eine Rahmenhandlung. Dabei rekapitulieren die Opfer elterlichen Größenwahns aus ihrer Friedhofssicht, was ihnen geschah.

Ausstatter Stefan Morgenstern hat sie allesamt in tolle Kostüme gesteckt, stark inspiriert von einer Dark Fashion in Rot und Schwarz mit Rüschen, Netz und jeder Menge wirrem Haar – denn dafür steht ja Struwwelpeter: ‚Seht einmal hier steht er, pfui, der Struwwelpeter‘. Doch erstmal kommt er auf die Welt, und seine Eltern, die freuen sich über das Paket vom Storch. Tatsächlich senkt sich ein Storchenschnabel schicksalhaft herab wie ein Riesenpfeil mit einem wimmernden Päckchen. Natürlich machen die Eltern alles falsch, das ist das Grundprinzip: Sie verbieten, sie drohen, sie bestrafen, sind autoritär. Minz und Maunz, die Katzen, beweinen Paulinchens Feuertod, von dem nur ein Häuflein Asche bleibt, tatsächlich ein rieselndes Häuflein. Dem Daumenlutscher Konrad schneidet der Schneider mit der ‚Scheer‘ die Daumen ab, was sonst? Flupp, weg sind sie. Der Suppenkaspar ist am fünften Tag tot, weil er seine Suppe nicht isst, und schließlich Zappelphilipp: Hier biegt sich der Stuhl unter Philipp derart vor und zurück, dass einerseits die Bühnentechnik bewundert wird, andererseits er das Schicksal der anderen teilt, von Messern durchbohrt.

Die Kindlein sterben am Ungehorsam. Dass dies bei Carsten Knödler mit Augenzwinkern passiert, die Komödianten um Ulrike Euen (Damen) und Philipp von Schön-Angerer (Herren) die pure Lust des Spiels entfalten, versteht sich von selbst. Musikalisch raffiniert umgesetzt wird das Moritatenwerk von einem Team unter Steffan Claussner, auch die Schauspieler kann man live an Banjo, Saxophon und Blockflöte erleben, vor allem singen sie hingebungsvoll die Titel, die sich zwischen Punk und Clowns-Tradition, Russendisko und Balkanpop einordnen lassen.

Für schwache Nerven ist das frühe Ableben der schwer erziehbaren Jugend nichts. Dennoch war das Publikum in der Premiere sehr entzückt, denn das Stück langweilt dank exzellenter Schauspielkunst keine Minute. Literaturfreunde haben außerdem Rate Spaß, denn zitiert wird querbeet von Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ bis hin zu Shakespeares Richard III. Und wer seinen ‚Struwwelpeter‘ bereits in die zweite Buchreihe verbannt hat, kann ihn ja nunmehr einer kritischen Lesung unterziehen: Die ‚Geschichte von den schwarzen Buben‘ hat nur andeutungsweise den Weg auf die Bühne gefunden.

Freise Presse

Schaurig-morbide Premiere

Struwwelpeter begeistert im Schauspielhaus

Skurril, morbide und mit viel schwarzem Humor: Das ist der ‚Struwwelpeter (Shockheaded Peter)‘. Die bekannten Geschichten von Heinrich Hoffmann feierten (…) in einer Musical-Version von ‚The Tiger Lillies‘ im Schauspielhaus Premiere.

Noch bevor sich der Vorhang hob, trat Schauspieldirektor und Regisseur Carsten Knödler auf die Bühne und wünschte den Besuchern ‚gute schaurige Unterhaltung‘. Und die hatte das Chemnitzer Publikum: Die Darsteller Jan Gerrit Brüggemann, Marko Bullack, Magda Decker, Ulrike Euen, Dominik Förtsch, Andreas Manz-Kozár und Philipp von Schön-Angerer zeigten sich als schaurige Bande. Die Schauspieler tanzten und sangen sich mit Spielfreude und Energie durch die Geschichten vom Zappelphilipp, Suppenkasper und Daumenlutscher.

Angesiedelt ist das Stück in einer Friedhofskulisse (Bühne/Kostüme: Stefan Morgenstern), wo die Darsteller um die Gräber tanzen, in Brunnen fallen oder aus einem Sarg steigen, mit zur Szenerie passenden Kostümen. Die Inszenierung von Carsten Knödler erinnert an Tim Burton oder ‚Die Addams Family‘ – und das kam beim Publikum an. Nach minutenlangem Applaus konnte es sich noch nicht von den Schauspielern trennen und bekam eine spontane Zugabe.

Chemnitzer Morgenpost

Premiere im Rückblick:

Herrliche Groteske zum Spielzeitauftakt im Chemnitzer Schauspielhaus.

Lasst mich doch in Ruhe. Ich will einfach meinen Spaß haben. Ob der Schauspieldirektor im Smoking kommt, ob der Dramaturg noch so ernsthaft sich bemüht, die Moral von der Geschicht im Programmheft auszubreiten. Ich gestehe: Mir sind all die Rousseaus, Steiners, Montessori wurscht, wenn ich den Chemnitzer „Struwwelpeter“ sehe und höre. Da vergisst die Kritikerkralle unter dem Lack zu kratzen, bedeutungsschwer Bezüge herzustellen – und tut das mit Genuss. Diese Farce ist einfach zu großartig, als dass sie den Umweg über die grauen Gehirnzellen in den Lach-Bauch machen muss.

Himmel, wann haben wir eine so tollfröhliche Ensembleleistung gesehen? Alle spielen Schau, auch die Musiker, alle singen, falsche Töne jucken nicht, Falsetts für den Suppenkasper, der wie ein Falstaff daherkommt, die Schauspieler wagen sich an Banjo, Gitarre und Blockflöte. Der Suppenkasper popot ein Kippelstuhlballett und singt wie in Ring of fire, die Damen duettieren sich, gefühlte hundert verschiedene Kostüme für die einzelnen Episoden, Tausende von Gags, weil der Regisseur jedes Wort ernstfröhlich in Bewegung und Slapstick umsetzt, der weiße Pädagogengequatsche-Engel schwebt vom Himmel in die irdische Biederfamilien-Rumpelkammer, sie totentanzen, b..sen und poltern, Rotpumps und Bigfoots überstehen Rauch, Gezisch und Feuer, da lässt sich wer die Birne schwarzmalern, Robert viedeot sich beschirmt wie Mary Poppins in den Himmel, sie sterben feuchtfröhlich zum Lied vom Tod, nachdem ihnen das Blut bänderweise aus den Eingeweiden quollte, sie musicaln wie die Weltmeister und sprechen ihren Struwwelpeter-Hoffmann, wie wir ihn seit Muttermilchtagen aufgesaugt haben. Manchmal weißt Du nicht, wo Du zuerst hinschauen sollst auf dieser morbidaufwändigen Friedhofsszenerie-Bühne, Du ziehst die Knie ein, wenn sie durch die Reihe tanzen und den Kopf, wenn der Risesenhinkelsteinbaseballschläger ummäht, wer als nächster dran ist oder zufällig dumm in der Nähe harrt. Ja, natürlich hat dieses Musical einen ernsten Hintergrund. Und ja, Kadavergehorsam führte schon mehrfach Jungvolk mit Fahne ins Verderben. Und ja, jeder kehre vor der eigenen Tür. Stimmt alles. Spült sich auch alles auf der Bühne ab, Lessingsches Furcht und Entsetzen und Mitleid entladen sich in irren Lacheruptionen – und wer’s nicht mitfühlt, wird’s nie erjagen: wir sind alle Struwwels. Am selben Abend wird in ganz anderem Zusammenhang auf Facebook der BGB-Paragraf 1619 zitiert, der heute noch gilt: „Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört … verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.“ Und wir Muttis und Vatis blicken stumm… Wir haben ja die Weisheit gefressen. Und wer nicht ist wie wir, den bombardieren wir, wie die Amis gestern in Syrien. Rebellen sind Kinder, die gehorchen lernen müssen. Waffenstillstand? Waffengleichheit? Die „Tiger Lillys“ haben ein verrücktes Musical geschrieben – alles auf den Kopf gestellt. Die „Junk-Oper“ blickt herrlich makaber auf eine Welt, die Kabarett ist. Im besten Fall… Schauspieldirektor Carsten Knödler lässt keine Beklopptheit aus, lässt den belehrenden Zeigefinger hinter Krallennägeln und Biedermeierbenimm unter Struwwelperücken verschwinden oder entlarvt sie glatzisch. Stefan Morgenstern hat eine schüttelmakabre Bühne und saukomischtreffende Kostüme geschneidert, Steffan Claußner bluest moritatisch das Lied vom Tod der Pädagogenetikette. Und die Schauspieler – eine eingeschworene Truppe, die ihren Spaß an diesem Zerrspiegel-Märchen hat. Das Programm verzichtet auf Rollenbezeichnungen, wir werden den Teufel tun, oder den schwarzen Engel, beckmessernd aufzulisten, wer als was wann wie gewuselt hat. Marko Bullak, Magda Decker, Jan Gerrit Brüggemann (am Vorabend eingesprungen für den von Viren flach gelegten Michel Dierks), Ulrike Euen, Dominik Förtsch, Andreas Manz-Kozár, Philipp von Schön-Angerer und die Hutmenü servierende Pauline Schoenke (jedes Köpfchen braucht ein Deckelchen, und wenn’s nicht passt, machen wir’s passend…) – oben steht’s schon: „Himmel, wann haben wir eine so tollfröhliche Ensembleleistung gesehen?“

Theater Förderverein Rückblick